Im Blickpunkt| 27.03.2023

«Wir werten nicht, wir helfen»

Immer mehr Menschen suchen immer häufiger den «Notfall» der Schweizer Spitäler auf. Auch im Spital Limmattal ist dieser Trend spürbar. Was das für Patientinnen, Patienten und Personal bedeutet – und wie man auf die Entwicklung reagiert: die drei Leiterinnen des Notfallzentrums erzählen aus der Praxis.

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Von links nach rechts:
Dr. med. Claudia Büeler, Chirurgische Leiterin des Notfallzentrums
Gabriela Schreiber, Leiterin Notfallpflege und
Dr. med. Rita Sager, Medizinische Leiterin des Notfallzentrums.

Text: Flavian Cajacob / Bilder: Michele Limina

Montagmorgen, Notfallzentrum Spital Limmattal. Das Wochenende ist vorüber. Ein leeres Wartezimmer. Die Ruhe nach dem Sturm? Oder doch eher die Ruhe vor dem Sturm, respektive vor der langen Arbeitswoche? Dr. med. Rita Sager winkt ab. «Normalbetrieb; zwei Drittel der Behandlungskojen sind besetzt.» Sie schmunzelt. «Es geht also schon was, aber das braucht man als Aussenstehender ja nicht unbedingt mitzubekommen. » Ein geordneter Betrieb, ein Team, das ruhig, interdisziplinär und damit Hand in Hand agiert, das zeichnet einen gut geführten «Notfall» aus. Zwei Minuten später fährt beim Eingang ein Rettungsfahrzeug vor, in der Anmeldung taucht ein Mann an Krücken auf, zwei junge Frauen nehmen einen letzten Zug an ihren Zigaretten, bevor sie die Hygienemasken aufsetzen und das Haus  betreten. «Manchmal», sagt Sager, «da füllt sich der Wartebereich von einer Minute auf die andere, voraussagen lässt sich das nie.»

Abbild der Gesellschaft
Dr. med. Rita Sager ist Medizinische Leiterin des Notfallzentrums Spital Limmattal. Zusammen mit Dr. med. Claudia Büeler, der Chirurgischen Leiterin des Notfallzentrums, und Gabriela Schreiber, der Leiterin Notfallpflege, sitzt sie in ihrem Büro und berichtet aus dem Arbeitsalltag. Alle drei haben sie viel Erfahrung, alle drei wissen sie um die aktuelle Befindlichkeit des Gesundheitssystems – und vor allem der Menschen, die sich hilfesuchend an sie und ihre Kolleginnen und Kollegen wenden. «Wer in den ‹Notfall› kommt, wähnt sich persönlich immer als Notfall», sagt Dr. med. Claudia Büeler. Eine simple, aber nachvollziehbare Gleichung, die indes nicht immer ganz den Tatsachen entspreche. «Aber es ist nicht an uns, zu werten – wir wollen in erster Linie helfen», ergänzt Büeler.

In den letzten Jahren hat die Zahl der Notfallpatientinnen und -patienten stetig zugenommen. Behandelte das Notfallzentrum Spital Limmattal im letzten Jahr rund 29'500 Patientinnen und Patienten, wurde diese Zahl 2022 bereits Ende Oktober erreicht. Die Spanne der versorgten Fälle reicht vom Husten und verstauchten Knöchel bis hin zum Schlaganfall oder Herzinfarkt.

Ob kleiner Zwischen- oder schwerer Unfall: «Wir haben es hier immer auch mit Emotionen zu tun», führt Gabriela Schreiber aus. Zum gesundheitlichen Problem, das je nach Situation mehr oder weniger ausgeprägt ist, gesellt sich bei Betroffenen wie bei Angehörigen stets ein gewisses Mass an Verunsicherung und Angst. «An uns ist es, die Leute an diesem Punkt abzuholen und dafür zu sorgen, dass sie sich rasch gut aufgehoben fühlen und zur Ruhe kommen», führt die Leiterin Notfallpflege aus. Ein Bestreben, das allerdings nicht immer und auch nicht bei allen gleich gut umsetzbar sei. «Dünnhäutigkeit und Anspruchshaltung haben in den letzten Jahren zugenommen», bemerkt Dr. med. Rita Sager, «aber das ist nicht nur bei uns so, sondern ganz allgemein in den Spitälern, wenn nicht sogar in der gesamten Gesellschaft.»

Notfallstation & Notfallpraxis
Eine wichtige Rolle bei der Versorgung von Kranken und Verletzten kommt auf dem «Notfall» der sogenannten Triage zu – der Entscheidung also, wer von wem in welchem Zeitrahmen versorgt werden soll.Leichte Fälle (sie machen rund ein Drittel der Konsultationen aus) werden der internen Notfallpraxis zugewiesen, welche das Spital Limmattal unter gleichem Dach zusammen mit Hausärzten aus der Region betreibt. Schwere und akute Fälle sowie jene, die der Rettungsdienst einliefert, kommen auf die Notfallstation. Von diesen wiederum wird letztlich jeder dritte im Akutspital stationär aufgenommen. «Auch wenn wir intern über ein sehr versiertes Bettenmanagement verfügen, kann eine notwendige Verlegung nach extern eine grosse Herausforderung darstellen und viel Zeit und Ressourcen kosten», betont Dr. med. Rita Sager. Der Personalmangel im Pflegebereich wirkt sich eben auch auf die Verfügbarkeit freier Betten aus – von Basel bis Chiasso, von Genf bis Chur.

«Wir haben es hier immer auch mit Emotionen zu tun. Zum gesundheitlichen Problem gesellt sich stets ein gewisses Mass an Verunsicherung und Angst. An uns ist es, die Leute an diesem Punkt abzuholen.»

In der Leitstelle, quasi dem Gehirn des Notfallzentrums, versammeln sich Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachpersonen. Ein grosser Bildschirm hält die Mitarbeitenden auf dem Laufenden, welche Patientin oder welcher Patient mit welchem gesundheitlichen Problem in welchem Raum liegt und welche Behandlung gerade am Laufen ist. Auf etwas über drei Stunden beläuft sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer sämtlicher Patientinnen und Patienten im Limmattaler Notfallzentrum, wobei die Spanne je nach Sachverhalt von wenigen Minuten bis zu einem ganzen Tag reichen könne, präzisiert Gabriela Schreiber. Bei besonderen Bedürfnissen – etwa bei Kleinkindern oder komplexen Augen- und Ohrenverletzungen – organisiert das Notfallzentrum darüber hinaus die weitere Behandlung durch einen niedergelassenen Spezialisten oder eine spezialisierte Klinik.

Die am häufigsten gestellte Frage im Notfallzentrum lautet: «Wie lange muss ich noch warten?» Grundsätzlich sei das Verständnis zwar vorhanden, dass lebensbedrohliche Vorfälle prioritär behandelt würden, sind sich die drei Leiterinnen einig. Dennoch machen sie eine – wie eingangs erwähnt – gesteigerte Erwartungshaltung aus, was die umgehende Berücksichtigung oder eben die Wartezeiten anbelangt. Die Gründe dafür seien mannigfaltig, führt Dr. med. Claudia Büeler aus. Zum einen würden die Einwohnerzahlen der Limmattal-Gemeinden und damit des Einzugsgebiets des Spitals Limmattal laufend steigen. Gleichzeitig werde die Gesellschaft per se immer älter. Und wer älter wird, ist erfahrungsgemäss eher und häufiger krank, verletzt sich schneller oder leidet an Multimorbidität, vereint also verschiedene
Krankheitsbilder auf sich. Hinzu komme der im Zuge von Corona verstärkte Abgang von Fachkräften im Pflegebereich – Fachleute, die heute auch dem «Notfall» fehlen – oder die Tatsache, dass selbst Ärztinnen,
Ärzte und Pflegende krank werden.

Arbeitgeber machen Druck
Weder neu noch überraschend ist, dass immer mehr Menschen immer häufiger und umgehender den «Notfall» aufsuchen, wenn ein gesundheitliches Problem auftritt. Ein Dauerbrenner quasi. «Es gibt Menschen, die kennen gar kein anderes System, wissen also gar nicht, dass man bei einer leichteren Erkrankung auch einmal den Hausarzt konsultieren könnte», bemerkt Dr. med. Claudia Büeler. Alleine diesen die Schuld am
Ansturm auf die Notfallstationen zu geben, greift ihrer Meinung nach aber definitiv zu kurz. «Gleichzeitig gibt es auch immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte. Wir haben Fälle, in denen sich Patientinnen oder Patienten zwar redlich darum bemüht, letztlich aber schlicht keine Praxis gefunden haben, die sie binnen nützlicher Frist hätte versorgen können», sagt Dr. med. Rita Sager. «Da liegt es auf der Hand, dass das Notfallzentrum irgendwann die beste oder gar einzige Option ist.»

Dass Leistungen jederzeit und sofort verfügbar sein müssen, entspricht auch dem heutigen Zeitgeist. Und das nicht nur mit Blick auf die Direktbetroffenen, also Kranke oder Verletzte, sondern auch hinsichtlich der Wirtschaft, der Unternehmen, der Arbeitgebenden. «Arbeitsunfähigkeitszeugnisse, die vom Chef für einen Tag oder gar einen halben Tag Abwesenheit eingefordert werden, sind heute keine Seltenheit mehr», stellt Gabriela Schreiber fest. «Dementsprechend können die Betroffenen auch nicht drei Tage warten, bis sie vielleicht beim Hausarzt einen Termin erhalten.» Auch hier wirkt der «Notfall» vielfach als letzter, vielleicht auch einfach als praktischster Ausweg.

Trotz dieses Druckes von verschiedener Seite, trotz all der Forderungen und Befindlichkeiten gelte es indes stets, den Menschen ins Zentrum des Tuns zu stellen, betont die Leiterin Notfallpflege. «Einfühlungsvermögen und Mitgefühl leiten und begleiten uns fortlaufend in unserem Wirken. Wer im Notfallzentrum tätig ist, verfügt denn in der Regel auch über sehr viel fachliche und menschliche Erfahrung, das ist sicherlich eine Grundvoraussetzung, um diesen Job gut machen zu können.» Für das Trio ist klar, dass die meisten schwierigen Situationen, gerade was die Wartezeiten oder Behandlungsprioritäten auf dem «Notfall» betrifft, nur mit klarer Kommunikation bewältigt werden können. Gefordert sei vor allem eines: gegenseitiges Verständnis. «Wir sind ja alle nur Menschen, ob Patientin oder Patient, Ärztin oder Arzt», hält Dr. med. Rita Sager fest.

«Es gibt Menschen, die kennen gar kein anderes System, wissen also gar nicht, dass man bei einer leichteren Erkrankung auch einmal den Hausarzt konsultieren könnte.»

Mitten im Gespräch klingelt das Telefon von Dr. med. Claudia Büeler. Sie muss los. Ein gebrochener Knochen wartet. Auch Dr. med. Rita Sager und Gabriela Schreiber greifen wieder ins Tagesgeschehen ein, kümmern sich um Schnupfen, Atemnot und Herzinfarkte, planen Einsätze, organisieren, priorisieren, agieren. Im Leitungsteam trage man eben viele verschiedene Hüte, sagt Dr. med. Claudia Büeler. So herausfordernd und verantwortungsvoll der Job, so abwechslungsreich und spannend sei er auch. «Sie kennen bestimmt diese Zirkusartisten, die auf Stäben ganz viele Teller jonglieren und immer in Bewegung sein müssen, um mal hier, mal dort zu drehen, damit keiner der Teller runterfällt», lacht sie und nickt ihren Kolleginnen zu. «In etwa so können Sie sich die Arbeit im Notfallzentrum vorstellen.»

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